„Jedes Team durchläuft die vier Phasen der Teambildung: Forming, Storming, Norming und Performing (Tuckman, 1965). Dies gilt auch für Teams im Rahmen von agilen Softwareprojekten.“ (https://gate4.com/blog/teambildung-in-agilen-teams/, abgerufen am 29.12.2023)
So kann man es auf unzähligen Websites von Beratungsunternehmen lesen. Aber nicht durch dort, sondern auch in eingeführten Lehrbüchern der Arbeits- und Organisationspsychologie:
„Sicherlich ist jedes Team anders – unterschiedlich zusammengesetzt und auch mit unterschiedlichen Aufgaben vertraut. Dennoch beschreibt Tuckman (1965) in seinem Modell Phasen, die mehr oder weniger bei allen Teamfindungsprozessen auftreten.“ {Kauffeld 2014}
„Bei allen Teamfindungsprozessen??“ In der Tat hat Bruce Tuckman vor nunmehr knapp 60 Jahren einen Artikel über Teamentwicklung veröffentlicht, in dem er diese vier Phasen definierte und sie mit eingängigen Reimworten belegte:
Phase 1 „Forming“: Das Team kennt sich noch nicht. Die Beziehungen sind von Unsicherheit und Abtasten geprägt.
Phase 2 „Storming“: Die Teammitglieder stecken ihre Reviere ab. Dabei kann es auch um Dominanz-Bestrebungen Einzelner gehen, die konfliktuell ausgefochten werden.
Phase 3 „Norming“: Gruppengefühl und Zusammenhalt entwickeln sich langsam. Dabei werden Standards entwickelt. Die Teammitglieder nehmen (bewusst oder unbewusst) Teamrollen an.
Phase 4 „Performing“: Die Teamstrukturen sind soweit entwickelt, dass sie eine produktive Aufgabenerfüllung unterstützen.
Und diese Phasen soll jetzt „jedes Team“ auf der Welt so zwanghaft mechanisch durchlaufen wie die Kugel des Sysiphos den Berg runterrollt? Und zwar so, dass auch keine Phase übersprungen werden darf (steht auch in manchen Beratertexten)? D.h. natürlich ganz „agil“?
Wobei, ehrlich gesagt, das Ganze ja eher an einen Wasserfall erinnert – meinetwegen einen aufsteigenden. Aber es ist so ein schönes Modell und so einfach und verständlich und dann reimt es sich auch noch. Und allein die Vorstellung, dass z.B. Teams zwischen den Phasen hin- und herspringen wie aufgeregte Hühner – das wäre ja schon ein bisschen unordentlich. Da wollen wir mal nicht kleinlich sein.
Zweifel auf den ersten Blick
Tuckman selbst sagt zum Ansatzpunkt seiner Untersuchung: „Ziel dieses Artikels ist es, einen Überblick über die Literatur zu geben, die sich mit der Entwicklungsabfolge in kleinen Gruppen befasst, diese Literatur als Ganzes zu bewerten, allgemeine Konzepte über die Gruppenentwicklung abzuleiten und fruchtbare Bereiche für weitere Forschung vorzuschlagen.“ (Tuckman 1965)
Tuckman setzt also voraus, dass es eine Entwicklungsabfolge („developmental sequence“) überhaupt gibt. Mit dieser Perspektive wertet er Literatur aus. Und diese Hypothese – also ob sie überhaupt zutrifft – diskutiert er im weiteren Artikel auch nicht mehr. Aber das stellt ja für alle, die in kleinen Gruppen arbeiten oder als Berater von außen mit kleinen Gruppen zu tun haben, eine ziemlich steile These dar – oder?
Wenn ich man mich zum Beispiel nach meinen Projekterfahrungen fragte, würde ich auf diese These überhaupt nicht kommen. Ich kenne Teams, die in kürzester Zeit produktiv loslegten. Ich kenne Teams, die extrem produktiv waren, und auf einmal in eine Art Stagnationsphase gerieten und sich schließlich auflösten. Projektgruppen in Verwaltungen – Sachgebiete, in denen ich gearbeitet habe – ehrenamtliche Vereine – das Wohnprojekt, das ich mit aufgebaut habe: ich kann keine festen Phasen identifizieren. Außer vielleicht eine Kennenlernrunde am Anfang, wenn man sich noch nicht kennt; aber dafür brauche ich keinen wissenschaftlichen Artikel.
Schon bei der Einleitung eines Artikels wie dem von Tuckman frage ich: „Kann das überhaupt stimmen?“
Was Tuckman selbst zur Reichweite seines Modells sagt
Tuckmans Artikel beruht auf der Auswertung von 50 anderen Artikeln, die sich mit Teamentwicklung befassen. Es ist also eine Metastudie, nicht das Ergebnis direkter Forschung. Die ausgewerteten Publikationen betrafen verschiedene Arten von Gruppen:
- 26 Studien bezogen sich auf Therapiegruppen.
- 11 Studien bezogen sich auf Trainingsgruppen
- 13 Studien bezogen sich auf „natürliche Gruppen“ oder „Laboratoriumsgruppen“.
Therapiegruppen bestehen aus fünf bis fünfzehn Mitgliedern, von denen jedes ein persönliches Problem hat. Ziel ist es , den Einzelnen zu helfen, ihre persönlichen Probleme besser zu bewältigen. Jede Gruppe wird von einem Therapeuten geleitet. Dieser ist auch der Verfasser des Berichts, den Tuckman ausgewertet hat.
Trainingsgruppen sind meist größer (15 bis 30 Personen), haben auch die individuelle Entwicklung der Mitglieder zum Ziel, aber auf dem Gebiet der Verhaltensweisen in Gruppen (human relations). erichterstatter ist auch hier der Trainer der Gruppe.
Als natürliche Gruppen bezeichnet Tuckman Teams oder Sachgebiete in gewerblichen Unternehmen. Sie kommen vermutlich unserem Teambegriff am nächsten.
Und dann gibt es noch die „Laboratoriumsgruppen“. Das sind künstlich gebildete Gruppen, die im ahmen von Forschungsprojekten speziell gebildet wurden, um Gruppenphänomene zu studieren. Tuckman 1965}
Tuckman selbst bittet um „Vorsicht bei Verallgemeinerungen“ seiner Ergebnisse [caution in generalizing] aus dieser Literatur. Dies liege insbesondere an der mangelnden Repräsentativität der von ihm untersuchten Gruppen. „Diese Literatur kann nicht als wirklich repräsentativ für Entwicklungsprozesse in Kleingruppen angesehen werden, da bestimmte Settings überrepräsentiert sind, vor allem das Setting der Therapiegruppe, und andere unterrepräsentiert sind, vor allem das Setting der natürlichen Gruppe und der Laborgruppe. Dieser Mangel kann in der vorhandenen Literatur nicht behoben werden, sondern muss als Anregung für weitere Forschungen in den letztgenannten Gruppensettings dienen.“ {Tuckman 1965} Er selbst verstand sein Modell demnach als Anregung zu weiterer Forschung – nicht mehr. Und in einer Einleitung von 2001 äußert er die Vermutung, dass die Eingängigkeit der Begriffe „forming, storming, norming, performing“ den Hauptgrund für die weite Verbreitung seines Artikels darstelle.
Kritische Anmerkungen auf den zweiten Blick
Tuckman selbst erhebt überhaupt nicht den Anspruch, dass sein Modell irgendwie repräsentativ für die Millionen von Teams sei, die es auf der Welt geben mag. Mehr als die Hälfte seiner Beispiele beziehen sich auf Therapiegruppen, die mit den Teams wenig gemein haben, mit denen wir (als interne Projektmanager oder als externe Berater) in unserer beruflichen Praxis zu tun haben. Und fast immer wird die anekdotische Sicht der Gruppenleiter in den Berichten gespiegelt, und nie die Perspektive der Mitglieder abgefragt.
Aber selbst wenn man diese Einwände für nicht so wichtig hält und einmal annimmt, das Tuckman’sche Teamrad beschreibe zutreffend die Wirklichkeit: so würde es doch nichts erklären. Das Wachsen von Pflanzen oder die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen oder auch der Bau von Eiffeltürmen geschieht offenbar in bestimmten Phasen, die mit wenigen Ausnahmen allgemeingültig sind. Deshalb erscheint uns diese Denkweise so vertraut. Aber eine Beschreibung stellt keine Erklärung dar, und auch eine Erklärung liefert noch keine Handlungsanleitung. Seit undenklichen Zeiten hatten Menschen eine Vorstellung, wie Kinder sich entwickeln. Aber erst mit Jean Piaget und seiner kognitiven Entwicklungspsychologie wurden die Entwicklungsstufen in ein Erklärungsmodell eingebettet. Und erst nach und nach sickern die Schlussfolgerungen seiner Theorie in eine Praxis von Erziehungsinstitutionen und Erziehungsberufe ein.
Für die Teamuhr Tuckmans gilt das Gleiche. Angenommen wir wissen, dass es so etwas wie die „Storming-Phase“ gibt. Jetzt treffen wir auf ein dysfunktionales zerstrittenes Team. Ein Teammitglied bittet uns um Rat. Was hilft uns Tuckman dabei? „Naja, nimm’s nicht so tragisch, das ist eine ganz normale Phase“? Oder: „Erzähl mal genauer, worum es bei den Konflikten geht“? Im ersten Fall verleitet mich das Modell zu einer resignativen Haltung – ist also kontraproduktiv. Im zweiten Fall stelle ich die vernünftigen Fragen, die ich sowieso stellen muss. Also brauche ich kein Modell. – Es erklärt nichts und hilft nichts in der Praxis.
Warum sind wir von dem Modell so angetan?
Das ist die eigentliche Frage, die mich dazu gebracht hat, mich mit dem Thema zu beschäftigen. Einen langen Beitrag zu schreiben zum Thema, warum ein Modell nicht funktioniert, ist ja nicht sehr sinnvoll. Sondern wichtig scheint mir: Wie kommt es, dass wir als erfahrene, seriöse Berater:innen auf so einen Käse hereinfallen? Ja, dass wir den Beitrag von Tuckman – der ja selbst bescheiden auftritt – erst einmal zu solch einem Käse hochjazzen?
Das Echo auf Tuckman war und ist sehr groß. Eine Google-Suche nach „Forming Storming Norming Performing“ ergab 524.000 Ergebnisse, davon 32.300 deutsche Webseiten. Beiträge, die sich kritisch mit der Anwendung des Phasenmodells äußern, gibt es nicht sehr viele (siehe unten unter Literatur).
Mir gefällt am besten die Kritik von Patrick Schönfeld von den „Chaosverbesserern“, die sehr Weitgehend mit unseren Erfahrungen übereinstimmt.
Noch einmal die Frage: Wie kommt es zum überwiegend positiven und unkritischen Echo auf Tuckman? Berater müssen ihre Haut zu Markte tragen. Die Kunden wollen ein Problem lösen, haben aber meist eine falsche Vorstellung, worin eine Lösung bestehen könnte. Sie wünschen sich einen Unterstützer, der ihre Ansicht bestätigt und schnell ihre Lösungsidee technisch in die Tat umsetzt. Auf dem Dienstleistungsmarkt sehen sie sich umgeben von Beratern, die nur ihre eigenen Interessen verfolgen und ihnen möglichst hochpreisige Angebote machen. Sie entwickeln die verschiedensten Methoden, einen Berater zu finden, dem sie einigermaßen vertrauen können.
Berater versuchen, sich vor den kritischen Kundenblicken vertrauenswürdig zu machen. Dazu gehört, schnell Expertise zu demonstrieren. So ein schön gereimter Spruch klingt nach Wissen, das aber nicht akademisch-abgehoben wirkt und dem Kunden ein Verhältnis der Komplizenschaft anbietet. Es gibt noch ein zweites Argument, das tiefer unter die Haut geht. Ein Modell à la Tuckman gibt einem die Illusion der Macht. Man schaut auf eine Teamsituation von oben herunter, als wenn man eine Landkarte vor sich hätte. Auf dieser Landkarte zeigt sich mir auf einmal ein Weg, der z.B. auf einen Hügel führt – und das Problem, von A nach B zu kommen, scheint kontrollierbar. Das ist ein abstrakt klassifikatorisches Denken: „für alle Teams gilt …“ (Nonaka e.al. 2022) führen diese Denkweise, die in Westeuropa fest verwurzelt scheint, letztlich auf unsere metaphysische Philosophiegeschichte zurück, die auf Platons Ideenwelt basiert.
Das führt dazu, dass wir uns sehr schwer tun, wirklich situativ zu handeln. Einfach sich in eine Teamsituation quasi unvorbereitet hineinzubegeben, neugierig zu fragen „Was passiert denn da bei euch?“ und daraus einen Möglichkeitsraum zu entwerfen – ohne Netz und doppelten Boden -, braucht Mut und Bescheidenheit.
Schließlich und drittens basiert Tuckman’s Idee von festen Entwicklungsschritten letztlich auf einer Analogie zur individuellen Entwicklung von Kindern. So setzt er z.B. die Storming-Phase mit dem rebellischen Drang der Pubertät in Beziehung. Das Denken in Anthropomorphismen ist auch der deutschen Soziologie tief eingeschrieben. Die Parallelisierung von Fruchtfliegen, Menschen und Kaninchenzuchtvereinen unter der gemeinsamen Bezeichnung „System“ und mit dem Anspruch, wesentliche Gesetzmäßigkeiten daraus abzuleiten, gibt in Deutschland keinen Wissenschaftler und keinen Organisationsberater der Lächerlichkeit preis. Vielleicht fand Tuckman’s Ansatz auch deshalb bei uns so unkritischen Anklang.
Was uns weiterbringt
Brauchen wir ein Modell wie das Tuckman’sche? Dient das unserer Kundengewinnung, weil wir uns eben den Marktgesetzen ein Stück weit beugen müssen? Ist das dann nachhaltig?
Da bin ich noch unsicher. Aber wo ich sicher bin, ist, dass wir selbst für uns eine kritische Distanz zu hochgehypten Pseudomodellen wahren sollten.
- Ein Artikel oder ein Buch, die irgendwo publiziert werden, müssen deshalb noch nicht stimmen. Selbst wenn sie weite Verbreitung finden. Ein erster kritischer Impuls „Stimmt das denn mit meinen Erfahrungen überein?“ ist da ganz hilfreich.
- Nichts gegen heuristische Modellvermutungen. „Ich habe in meinen DMS-Projekten oft die folgende Konstellation gefunden…“ Das kann sehr wertvoll sein. Das ist Mustererkennung – also sozusagen ChatGPT-Niveau. Deshalb auch gar nichts gegen Tuckmans Artikel von 1965.
- Aber dann fangen die Fragen erst an: „Was könnten die Ursachen für diese Konstellation sein? Was können wir praktisch tun, um die Entwicklungskräfte des Teams zu wecken?“ Das ist der Kern unseres Beraterjobs und damit kommen wir unserer Verantwortung nach.
Und natürlich wäre eine inhaltliche Beschäftigung mit Teamprozessen auch nicht schlecht. Ein Ansatz, wie er mit dem „Psychologischen Sicherheit“ verfolgt wird, ist empirisch fundiert und bietet praktische Handlungsoptionen an, mit denen man ein Team im „Stormingmodus“ unterstützen kann.
Literatur
(Kauffeld 2014) Kauffeld, S.: Arbeits-, Organisations- und Personalpsychologie für Bachelor. Springer-Verlag: Berlin Heidelberg, 2014
(Nonaka e.al 2012) Nonaka, Ikujiro; Takeuchi, Hirotaka; et al.: Die Organisation des Wissens: Wie
japanische Unternehmen eine brachliegende Ressource nutzbar machen, 2012.
Bing hat mir folgende kritische Artikel empfohlen:
Patrick Schönfeld: Das Phasenmodell nach Tuckman – nur ein Mythos, 06.03.2022,
https://chaosverbesserer.de/blog/2022/03/06/das-phasenmodell-nach-tuckman-nur-ein-mythos/
jedes-team-ist-anders.de : https://www.jedes-team-ist-anders.de/blog/tuckman-lag-mitphasenmodell-
und-teamuhr-falsch
nlpeter.de : http://nlpeter.de/phasen-der-teamentwicklung-nach-tuckman-aktuell-wie-nie/
link.springer.com : https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-658-37446-4_3
link.springer.com : https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-658-12008-5_11
wpgs.de : https://wpgs.de/fachtexte/gruppen-und-teams/teamentwicklung-phasen-tuckman/
(alle abgerufen am 18.01.2024)