Projekte zur Ortsentwicklung auf kommunaler Ebene folgen oft einem traditionellen Schema, bei dem die Verwaltungsspitze die Ziele vorgibt, die Projektplanung an ein Fachbüro outsourct und weder für eine Beteiligung des Gemeinderats noch der Einwohnerschaft Raum ist.
Dieses Handlungsmodell war in vergangenen Jahrzehnten erfolgreich, trifft aber auf Schwierigkeiten. Insbesondere sind größere Probleme (die Dekarbonisierung ist davon nur eines) ohne aktive Mitarbeit der Bevölkerung schlicht nicht umsetzbar. Wenn Menschen ihr Verhalten grundlegend ändern sollen oder sollen müssen, bringt es Projektrisiken mit sich, wenn ihre Meinungen und Wünsche nicht schon bei der Planung berücksichtigt werden.
Erprobte Gefäße dafür existieren noch nicht. Wir werden sie entwickeln müssen. In Bietigheim, einem kleinen Ort bei Karlsruhe, möchte eine Initiative gerne mit einem Bürgerrat experimentieren. Sie lädt zu einer Veranstaltung am 24. Februar in das dortige Begegnungszentrum ein. Und wir unterstützen sie dabei.
Ein technokratisches Transformationsmodell
Auf Ortsbürgermeister in kleinen Gemeinden (Bietigheim hat 6.700 Einwohner) kommt eine Reihe ganz unterschiedlicher Aufgaben der Ortsentwicklung zu: ein Bürger-Begegnungszentrum wird benötigt; ein neues Baugebiet soll ausgewiesen werden; eine Durchgangsstraße bedarf einer Neugestaltung; die Einrichtungen der Kinderbetreuung platzen aus allen Nähten – und so weiter und so fort.
Die Verwaltungsspitzen verschiedener Kommunen haben für die Bearbeitung dieser Herausforderungen eine quasi standardisierte Herangehensweise entwickelt:
- ein Problem taucht auf
- die Verwaltungsspitze schlägt dem Gemeinde- bzw. Stadtrat ein Projekt vor
- dazu gehört schon ein Projektrahmen (qualitativ, zeitlich, finanziell)
- die gewählten Vertreter billigen den Auftrag, das Projekt in Angriff zu nehmen
- die Verwaltungsspitze beauftragt ein Fachbüro mit der konkreten Planung (eventuell nach einer Ausschreibung)
- das Fachbüro erstellt den Plan
- der fertige Plan wird in einer Bürgerversammlung vorgestellt
- der fertige Plan wird vom Gemeinde- bzw. Stadtrat gebilligt
- das Projekt geht in die praktische Umsetzung.
Dadurch, dass eine Diskussion erst nach der Fertigstellung eines Planentwurfs stattfindet, wird ihr jeder kreative Impuls geraubt. Jede neue Idee muss sich als „Kritik am Plan“ präsentieren. Die „Repräsentanten des Plans“ – direkt das Fachbüro, indirekt auch die Verwaltungsspitze – nehmen quasi automatisch eine Verteidigungshaltung ein. Im Ergebnis werden an der Projektplanung bestenfalls kosmetische Änderungen vorgenommen, nur um den jeweiligen „Kritikern“ ein Bonbon zu geben und sie nicht das Gesicht verlieren zu lassen.
Bedarf an Verständigung über lebenswerte Ziele
Auffällig bei dieser technokratischen Vorgehensweise ist, dass nie öffentlich und gemeinschaftlich über eben dieses gesprochen wird: „Was sind eigentlich die Ziele der Öffentlichkeit für ein gutes Leben in der Gemeinschaft?“ Bei jedem Projekt – wie oben das Begegnungszentrum, die Durchgangsstraße, die Versorgung mit Kitas – gehen die Veranwortlichen davon aus, dass dessen jeweilige Ziele „völlig klar“ sind. Und natürlich, dass sie diese Ziele kennen und nur noch umzusetzen brauchen.
Deshalb kann es bei der technokratischen Form der Bürgerbeteiligung auch nicht mehr um das „Was“ gehen („Was wollen wir eigentlich?“), sondern nur noch um das „Wie“: Wie soll zum Beispiel die Durchgangsstraße neu gestaltet werden – aber nur noch in kleinen Details wie Absenkung der Bürgersteige oder Zahl und Art zu pflanzender Bäume.
Aber gerade die Diskussion um das „Was“ ist es, die Gemeinschaft stiftet. Und zwar in zweifacher Hinsicht: einmal kommen Menschen zusammen, die einander im Wesentlichen fremd sind, und tauschen sich anhand einer konkreten Fragestellung darüber aus, was der Ort als Raum für sie in ihrem jeweiligen Lebensentwurf bedeutet. Diese Art von strukturierter Begegnung ist (unabhängig von jeglichem Ergebnis der Diskussion) eine Form, in der sich Kontaktnetze zwischen den Menschen zu spannen beginnen. /siehe Anmerkung 1/ Solche Gelegenheiten sind selten geworden. Sie kommen weniger spontan zustande und müssen organisiert werden. Wäre diese Organisation eine Aufgabe für kommunale Verwaltungen? Die Antworten fallen unterschiedlich aus.
Ein zweiter Effekt einer öffentlichen Diskussion um Ziele und Visionen besteht in den aufgerufenen Gefühlen. Für Technokratenohren klingt schon dieses Wort verdächtig. Aber Gefühle sind es, mit deren Hilfe ich mich sehr viel schneller verständigen kann als mit technokratischen Maßnahmenkatalogen.
Ich bringe ein Beispiel: Wenn ich mit meiner Frau zusammen ein Urlaubsziel für den Sommer suche, kommen wir uns häufig in die Quere. Ich möchte in die Berge fahren und wandern und sie plädiert für Strand und chillen. Ich möchte mit dem Zug fahren und sie wünscht sich einen Flug in den Süden. So kommen wir schwer zueinander. Wir sprechen nämlich schon über konkrete Maßnahmen, bevor wir uns über unsere tieferliegenden Visionen ausgetauscht haben.
Wenn wir uns gegenseitig fragen: „Warum möchtest du denn ans Meer?“ – „Warum willst du denn viel lieber in die Berge?“ – kann auf einmal ein interessanter Austausch beginnen. Wir stellen fest, dass meine Frau, die im Gesundheitswesen arbeitet, absolut stressige Arbeitsmonate im ständigen Stress hinter sich hat. Sie wünscht sich nur eins – alle Viere von sich strecken. Bei mir waren es zehn Monate lang fast nur Homeoffice am PC, und ich kann mir nichts Schöneres vorstellen als endlich mal körperliche Bewegung.
Darüber können wir uns nicht streiten. Es entsteht überhaupt kein Gegeneinander. Auf dieser Grundlage gegenseitigen Verständnisses und der Anerkennung der wohl begründeten unterschiedlichen Bedürfnisse können wir nach einem gemeinsamen Urlaubsziel suchen, bei dem wir beide auf unsere Kosten kommen. Vielleicht finden wir eines, das gut für beide passt. Vielleicht muss jeder von uns Zugeständnisse machen. Im Extremfall liegt die Lösung darin, dass wir getrennte Urlaube machen, weil uns nichts Besseres einfällt. Aber das Risiko, dass es zum Streit kommt und jeder sich über die beschlossene „Urlaubsstrategie“ nur ärgern kann, weil sich der oder die andere wieder einmal durchgesetzt hat – dieses Risiko wird deutlich gemindert. Bei optimaler Bemühung beider Seiten um wirkliches Verständnis der oder des Anderen entsteht ein Fundament des Zusammen-Denkens.
Auch das kann also der Effekt eines Bürgerrates sein, sich nämlich erst einmal mit dem „Was“ zu beschäftigen, also die Visionen eines gemeinsamen guten Lebens im Ort zu entwickeln und erst von da aus zum „Wie“ – die Strategien der Realisierung der Visionen – überzugehen.
Bürgerräte: Transformation im Dialog mit der Zivilgesellschaft
Wie kann man eine Diskussion schon im Frühstadium zwischen Bürgern und Verwaltung beginnen, die von der Verwaltung nicht als zusätzlicher Aufwand verstanden wird und auch das Recht des gewählten Gremiums, letztendlich den Projektentscheid zu treffen, nicht einschränkt? – Als Antwort auf diese Frage haben wir uns das Modell des Bürgerrats ausgesucht.
Zuerst einmal: Wer ist die „Initiative Bürgerrat Bietigheim“? Es ist eine lockere Gruppe von acht Menschen aus Bietigheim (Baden, nicht Bissingen!), die sich 2021 bei einem Barcamp im Ort kennengelernt haben. Zuerst wollten sie sich bei der Neugestaltung des zentralen Dorfplatzes einbringen. Sie organisierten eine Fahrt in das Städtchen Kingersheim (bei Mulhouse im Elsass), um das dortige Modell der Bürgerräte kennenzulernen. An der Fahrt nahm auch der Bürgermeister Bietigheims teil. Dann klappte es mit der Beteiligung an der Dorfplatzgestaltung nicht. Die Initiative hatte erstmal nichts zu tun. Dann tauchte durch eigene Betroffenheit die Frage auf: „Wie müssen/können/dürfen wir jeweils einzeln unsere Wärmepumpen planen? Oder gibt es noch Alternativen wie Fernwärme?“ Und es wurde beschlossen, selbst initiativ zu werden und zu einer Veranstaltung einzuladen. Deshalb nennt sich die Gruppe auch nicht Bürgerrat – der müsste durch den Gemeinderat beauftragt werden -, sondern „Initiative Bürgerrat“. Die Initiative legte einen Termin fest (das ist der 24. Februar 2024), fand einen Raum (das ist das Begegnungszentrum im Evangelischen Gemeindehaus) und verfasste eine Einladung. Verschiedene Referenten erklärten sich bereit, den Teilnehmer:innen Rede und Antwort zu stehen – darunter auch der Verantwortliche für die Bietigheimer Wärmeplanung und die Klimaschutzbeauftragte im regionalen Netzwerk.
Jetzt sind wir gespannt. Es ist ein Experiment. Es wird sich zeigen, ob es der Initiative gelingt, 20 oder 30 Bürger:innen aus dem Ort für die Teilnahme zu gewinnen. Und ob die dann auch auf ihre Kosten kommen. Und für mich als Vertreter des Common Sense Teams ist es ganz wichtig, ob es uns auch gelingt, die Verwaltung aktiv mit ins Boot zu holen: dass sie merkt, dass ein Dialog mit der Einwohnerschaft nicht einfach ein zusätzlicher Aufwand ist, sondern im Gegenteil ihren Projekten Unterstützung und Energie zuführt.
Die Politik des Zauberers und unsere Rolle
Laurent Riche, Bürgermeister im elsässischen Kingersheim, hat mich auf eine Struktur des politischen Handelns aufmerksam gemacht, die er die „Politik des Zauberers“ genannt hat. Politiker gehen dann in den Modus des Wohltäters, der die Wünsche seiner Bürger so erfüllt, wie diese Eltern mit den Weihnachtswunschzetteln ihrer Kinder tun: wohlwollend, durchaus bisweilen auch selektiv und die „unerfüllbaren Erwartungen“ geißelnd, aber immer von oben nach unten spendend.
Die Einrichtung der Bürgerräte, so Riche, breche mit dieser Haltung. Die Bürgerräte sind keine weitere „Wohltat“, keine eigentliches „Entgegenkommen“ der Verwaltung gegenüber den Einwohnern. Sie formulieren ganz im Gegenteil einen Anspruch an Bürgerinnen und Bürger, sich verantwortungsvoll auch mit den Rahmenbedingungen des lokalen Handelns auseinanderzusetzen. Und ihre Empfehlungen im realistischen Kontext finanzieller und rechtlicher Voraussetzungen zu entwickeln und nicht im Formulieren von Wolkenkuckuckswünschen stecken zu bleiben. Und für Politik und Verwaltung bedeutet die Einrichtung von und Zusammenarbeit mit Bürgerräten, Risiken und „wicked problems“ nicht zu verschweigen und unter den medialen Teppich zu kehren, sondern sie offen auf den Tisch zu legen. Anders kann von einem Umgang auf Augenhöhe keine Rede sein.
Es ist also eine ganz andere Politik als die, die wir im medialen Alltag gewohnt sind. Fast jede Regierungserklärung der aktuellen Bundesregierung (wie ihrer Vorgängerinnen der letzten 16 Jahre) hat die Botschaft ausgegeben: „Liebe Bürgerinnen und Bürger, vertrauen Sie uns. Wir regeln das schon für Sie!“ Dieser Politikmodus führt in die Irre. Wir werden die großen Herausforderungen nicht bewältigen können, ohne die Möglichkeit wie die Verpflichtung der Zivilgesellschaft, aktiv daran mitzuwirken. Und das ist der Grund, warum wir vom Common Sense Team, die wir uns geschäftlich und ehrenamtlich intensiv mit einer zukunftsgewandten Transformation der öffentlichen Verwaltung befassen, auch kleine Initiativen wie den Bürgerrat Bietigheim finanziell und organisatorisch sponsern und deren Erfahrungen auswerten und weitertragen wollen.
Anmerkung
/1/ Das Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ) erforscht u.a., wie sich lokale Gemeinschaften als wahrgenommene Gemeinschaften bilden, entwickeln oder auch verlieren und spalten. Siehe z.B. den Artikel von Angelina Göb und Peter Dirksmeier: „Zentren des Zusammenhalts. Urbane Nachbarschaften als Kohäsionskapital“ im Buch „Sozialer Zusammenhalt von Ort“, Campus Verlag, 2024, Seite 57-88.